Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen.
Rainer Maria Rilke
Sterben ist in den meisten Fällen ein Prozess, den man nicht minutengenau bestimmen kann, sondern der sich über Tage, Wochen oder Monate hinzieht. Die körperlichen Beschwerden einer Krankheit sind oft begleitet von Abmagerung, Schwäche, Appetitlosigkeit, Atemnot, gesteigertem Ruhebedürfnis und Teilnahmslosigkeit. Sterbende werden manchmal mit Säuglingen verglichen, denn sie brauchen das Gleiche: Pflege, Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung. Wie Säuglinge können sich Sterbende oft nicht mehr richtig artikulieren, aber sie spüren, wenn man sie liebevoll umsorgt und begleitet.
Ich habe immer wieder den Eindruck, dass sich viele Sterbende den Zeitpunkt ihres letzten Atemzugs aussuchen. Manche warten, bis die letzte Enkelin aus dem Ausland angereist ist, um dann in ihrer Anwesenheit in Frieden zu sterben. Andere Sterbende begleiten ihre Zugehörigen und warten so lange, bis diese ihrem Tod zustimmen und sie gehen lassen. Wieder andere passen genau die fünf Minuten ab, in denen sonst niemand im Zimmer ist. Sie möchten beim Sterben alleine sein.
Der Tod eines nahen Menschen ist meistens eine schmerzhafte Verlusterfahrung, die uns unser Leben lang begleiten wird. Manche Tode bezeichnen wir als Erlösung von Krankheit, Altersschwäche oder Pflegelast; wir betrauern sie, obwohl wir wissen, dass es gut so ist, wie es ist. Andere Tode erscheinen uns völlig sinnlos und ungerecht. Vielleicht sind wir unmittelbar nach dem Tod sehr gefasst, wir funktionieren und erleben alles wie unter einer Glasglocke. Häufig bricht sich die Trauer dann erst Wochen oder Monate später Bahn. Schmerz, Verzweiflung, Wut, Schuldgefühle, Niedergeschlagenheit, die Angst, dass gleich die nächste Person stirbt, oder der eigene Suizidwunsch kommen erst dann zum Vorschein, wenn wir sie aushalten und verarbeiten können. Ich schreibe hier bewusst von einem Wir, denn Trauererfahrungen sind universal und gehören zu jedem Leben dazu.
Im Angesicht des Todes sind wir Lebenden auch immer mit unserer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Nicht selten betrauern wir auch diese, wenn ein anderer Mensch stirbt.
Wenn der (erwartete) Tod eingetreten ist, muss erst einmal gar nichts getan werden. Ohnehin steht jetzt für die meisten Zugehörigen die Zeit still – früher hat man das mit dem Anhalten der Uhr zum Ausdruck gebracht. Auch die Haus-Ärztin muss nicht sofort ins Haus kommen, um den Leichenschauschein auszustellen. Tritt der Tod nachts ein, hat der Leichenschauschein Zeit bis zum nächsten Morgen. Es ist genug Zeit, um einfach nur bei dem Toten zu sitzen, die Stille zu spüren und vielleicht die eigene Erschöpfung zuzulassen. Es gibt den Brauch, das Fenster zu öffnen und neben dem Toten eine Kerze aufzustellen. Für manche Menschen ist es selbstverständlich, noch eine Nacht neben dem Toten zu schlafen. Manche wollen mit dem Toten alleine sein, andere möchten dabei in Gemeinschaft sein. Manchmal geschieht es auch, dass der Tod Menschen euphorisiert und dass am Totenbett eine ausgelassene Stimmung entsteht – auch das ist völlig in Ordnung.
Unsere Aufgabe:
Wir begleiten die Sterbenden und die Zugehörigen in dem Umfang, in dem sie es möchten. Es kann hilfreich sein, wenn wir schon vor Eintritt des Todes da sind. Das ist keineswegs „pietätlos“, sondern kann den Übergang erleichtern. Wir unterstützen die Zugehörigen beim Aushalten des Sterbens, indem wir für sie da sind, mit ihnen sprechen oder mit ihnen schweigen. Wir nehmen den Menschen die Angst vor dem toten Körper. Wenn die Zugehörigen selbst ankleiden wollen, helfen wir ihnen dabei. Wir bringen den Sarg, betten den Toten gemeinsam ein und koordinieren die Überführung. Jeder Schritt geschieht erst dann, wenn die Zugehörigen dazu bereit sind.