Mein erster Toter

Mein erster Toter war Herr Meier. Ich habe ihn bei meinem Praktikum bei memento Bestattungen kennen gelernt. An meinem zweiten Praktikumstag war ich mit Jan von memento zum Waschen und Anziehen von Herrn Meier verabredet. Bisher war meine Vorstellung von Toten eher gruselig gewesen: ich hatte Bilder von gespenstischen Zombies und Toten im Kopf, die mit langgewachsenen Haaren und Nägeln im Sarg wieder aufwachten. In der Nacht vor unserem Treffen konnte ich nicht schlafen. Würde ich mich vor dem Toten sehr erschrecken? Und was sollte mein Mentor Jan von mir denken, wenn ich ängstlich reagieren würde; schließlich wollte ich ja eigentlich Bestatter werden.

Bei Tageslicht sah es schon besser aus. Jan und ich radelten zum Krematorium Hennigsdorf durch die grüne Natur und Jan erzählte mir ein bisschen von Herrn Meier. Seine Asche werde auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg beigesetzt, wo er seine Kindheit verbracht habe. Außerdem hatte Jan von den Zugehörigen einen schwarzen Anzug und ein kleines Schachbrett mit Figuren für den leidenschaftlichen Schachspieler bekommen – das gefiel mir.

Als wir im Krematorium ankamen, zitterten mir doch etwas die Knie. Wir gingen in den kleinen Ankleideraum, wo schon der geschlossene Sarg bereitstand. Zuerst öffneten wir gemeinsam den Sarg. Dort lag Herr Meier mit ledriger Haut und weit geöffnetem Mund in einem blutigen Krankenhauskittel. Ein leicht süßlicher Geruch ging von ihm aus. Schläuche ragten aus seinem Körper, er sah elend aus. „Hallo, Herr Meier“, sagte Jan, „wir werden Sie jetzt für die letzte Reise zurecht machen.“ Vorsichtig schnitt Jan das Nachthemd auf und entfernte mit geschickten Handgriffen die Infusionsnadeln und Schläuche. Ich durfte mit einer Schere das Namensbändchen von Herrn Meiers Zeh entfernen. Der Fuß war kalt und steif. Dann bat Jan mich, mit lauwarmem Wasser die Pflasterspuren abzuwaschen. Das ging ganz gut und ich konnte mir auf diese Weise den unbekannten Körperzustand vertrauter machen.

Schließlich zogen wir Herrn Meier eine frische Unterhose und eine schicke schwarze Stoffhose an. Jan wies mich an, wo ich Herrn Meier anfassen sollte und wie ich ihn halten musste. Dann bekam Herr Meier noch ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und ein Jackett angezogen. Ich schwitzte bei vollem Körpereinsatz. Schließlich durfte ich ihm die Socken und die glänzenden Lederschuhe anziehen; Jan band ihm eine große schwarze Fliege um den Hals – aus dem elenden Mensch im verschmutzten Krankenhauskittel war ein Gentleman geworden.

Im Anzug sah Herr Meier tatsächlich würdevoll aus, auch sein offener Mund störte mich nicht mehr, im Gegenteil, es machte ihn irgendwie verschmitzt. Ganz zum Schluss richteten wir ihm das Kissen und legten ihm das Schachbrett und die Figuren dazu.

Zum ersten Mal einen Toten sehen

Durch das Hantieren am toten Körper hatte ich alle Angst verloren. Obwohl ich Herrn Meier zu Lebzeiten nicht gekannt hatte, war er mir irgendwie vertraut geworden. Das also war mein erster Toter. Ich war stolz darauf, ihm etwas Gutes getan zu haben. Als wir den Sarg schlossen, verabschiedete ich mich von ihm und wünschte ihm eine gute Reise.

Draußen schien die Sonne. Glücklich und erleichtert stieg ich aufs Rad und fühlte, wie kostbar und schön das Leben war – und insbesondere mein Leben als Bestatter, das an diesem Tag begonnen hatte.

mein erster Toter

Autor: julian.heigel

Bestatter

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